Im Moment darf ich Einzelstunden nur an Menschen geben, die die Einhaltung der “3-G-Regel” (geimpft, genesen, getestet) nachweisen können.
Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Zuschauen bei einer Einzelstunde. Ich fahre gemeinsam mit einer Bekannten zu einem Wochenend-Seminar, nach dessen Ende sie noch eine Einzelstunde bekommt. Sie schildert der Feldenkrais-Lehrerin, daß sich ihr Nacken bei langem Sitzen stark anspanne und daß sich hierauf ihr Blick verschwommen anfühle, was schließlich zu Kopfschmerzen führe. Meine Bekannte, nennen wir sie Inge, legt sich dann auf eine Art zu breit und zu niedrig geratene Massagebank und allerlei Rollen und Kissen werden unter diverse Körperteile gelegt, bis sie angibt, sehr bequem zu liegen.
Die Feldenkrais-Lehrerin sitzt auf einem Hocker und beginnt, Inge in äußerst langsamem Tempo zu bewegen. Oft scheinen die Hände der Lehrerin einfach nur dazuliegen und gar nichts zu tun. Sie geht dabei offensichtlich mit äußerster Präzision vor, denn sie verändert die Positionen ihrer Hände oft nur minimal. Ich wundere mich, daß sie durch Inges schlabberigen Joggingpullover hindurch überhaupt weiß, wo sie anzufassen hat. Da mir das Geschehen völlig unverständlich ist und so wenig für mich Ersichtliches passiert, beginne ich, in meinem Buch zu lesen, was ich auch ungestört tun kann, da die beiden jetzt nicht mehr sprechen. Nachdem ich lange in mein Buch vertieft bin, höre ich irgendwann Geräusche und als ich aufschaue, sehe ich, daß jetzt mehr Leben in die Szene gekommen ist. Die Lehrerin bewegt Inge schneller, auch sind die Bewegungen größer geworden. Einige Minuten später wird Inge aufgefordert, sich hinzusetzten.
Sie reibt sich die Augen, sagt, daß sie eben sogar einmal kurz geschlafen habe und daß es wunderbar gewesen sei. Im Sitzen führt sie noch einige Bewegungen selber aus, welche die Lehrerin hier und da mit den Händen unterstützt. Dann steht sie auf und geht ein wenig im Raum umher. Dabei wirkt sie auf mich größer und aufrechter als vorher.
Draußen möchte sie noch nicht gleich ins Auto steigen, sondern erst noch einen Spaziergang machen, was wir auch tun. Meine Frage, wie es denn gewesen sei, möchte sie erst später beantworten, da sie erst einmal spüren wolle, was sich verändert habe und dann erst reden. Während der Fahrt sagt sie, daß sie nicht im einzelnen genau sagen könne, was in der Stunde passierte. Es sei einfach ein unbeschreibliches Gefühl, nichts tun zu müssen, mit Händen angefaßt und bewegt zu werden, die äußerst sanft seien, gleichzeitig aber zupackend und präzise. Das Gefühl, daß nichts von ihr gefordert werde, keine Erwartungen zu erfüllen seien, habe ihre Gedanken, ihre Wahrnehmung über weite Strecken in ein Zwischenstadium zwischen Wachsein und Schlafen treiben lassen. Sie sei am Ende erstaunt gewesen, daß bereits eine ganze Stunde herumgewesen sei. Das Sitzen habe sich ganz anders angefühlt als gewohnt, irgendwie stabiler und leichter zugleich, und sie sei auf ihren nächsten Tag im Büro gespannt.
Heute, nachdem ich selber viele Einzelstunden bekommen und noch sehr viel mehr gegeben habe, bin ich immer noch oft erstaunt, welch große Wirkung kleine Bewegungen haben können. Der entscheidende „Trick“ ist der, daß ich während einer Einzelstunde nicht die Bewegung meines Klienten zu verbessern trachte, sondern seinem Gehirn Informationen zur Verfügung stelle, mit deren Hilfe er möglicherweise selbst in der Lage ist, seine Bewegung und/ oder Haltung zu verbessern. Ein Beispiel soll dieses Prinzip verdeutlichen:
Eine Klientin hat die Angewohnheit, die Schultern hoch, Richtung Ohren, zu ziehen und dort anzuhalten, was auf Dauer für die Schulter-/ Nackenmuskulatur zu Spannungen und Schmerzen führt. Ich bitte die Klientin, sich auf die Seite zu legen und den Arm lang auf den Rumpf zu nehmen. Ich winkele dann ihren Arm im Ellbogen an und gebe in den Ellbogen einen sanften Druck in Richtung Schulter. Nachdem ich diesen eine ganze Weile lang gehalten habe, lasse ich den Druck wieder los und schaue, ob sich etwas verändert hat.
Es ist gut möglich, daß die Schulter nun den Abstand zum Ohr etwas vergrößert hat.
Die beschriebene Vorgehensweise mag Sie erstaunen. Warum, so könnten Sie sich fragen, schiebt er die Schulter, die sich doch zu weit oben befindet nicht nach unten, sondern noch weiter nach oben? Die Antwort ist ganz einfach: Die Schulter ist nach oben gehoben, weil das Gehirn der Klientin der Muskulatur den Befehl gibt, genau dies zu tun. Würde ich nun versuchen, die Schulter nach unten zu bewegen, so würde ich gegen die Muskelspannung und gegen die Absicht des Gehirns arbeiten. Vielleicht könnte ich dieses „Tauziehen“ für den Moment gewinnen und die Schulter nach unten bekommen, aber spätestens wenn die Klientin aufstünde, würde mit höchster Wahrscheinlichkeit das Gehirn seinen ursprünglichen Befehl erneut erteilen und die Schulter nach oben ziehen lassen.
Indem ich die Schulter nach oben drücke, erfülle ich mit meiner Kraft den Befehl des Gehirns der Klientin. Wenn ich die Schulter dort eine Zeitlang halte, läßt die Muskelspannung irgendwann los, da das Gehirn merkt, daß der Zweck erfüllt ist, ohne den Befehl zum Arbeiten erteilen zu müssen. Gebe ich nun dem wahrnehmenden Teil des Gehirns der Klientin die Gelegenheit, diesen Zustand eine Weile zu spüren, so kann es gut sein, daß nach meinem Loslassen das Gehirn nicht erneut den Befehl zum Anspannen erteilt, da es zu dem Schluß gelangt ist, daß sich der entspannte Zustand besser anfühlt.
Ich arbeite in der Einzelstunde also immer mit dem Zustand des Klienten, nicht dagegen. Ich möchte nichts korrigieren, sondern ich zeige Alternativen auf und überlasse es dann der Intelligenz des Gehirns, zu entscheiden welchen Zustand es für den momentan besten hält.
Die hier beschriebene Art der Entscheidung hat nichts mit bewußter Willensentscheidung zu tun, sondern geschieht in den Teilen des Gehirns, die für die unbewußte Bewegungssteuerung zuständig sind. So kommt es, daß die Einzelstunde selbst bei schlafenden KlientInnen ihre Wirkung nicht verfehlt.
Für mich persönlich ist die mit dieser Vorgehensweise einhergehende Sanftheit und Leichtigkeit mit keiner anderen Erfahrung, die ich bisher gemacht habe, vergleichbar.
Die Feldenkrais-Einzelstunde
(funktionale Integration)