Leitideen

Zum Gesundheitsverständnis der Feldenkrais-Methode

„Ein Mensch ist um so gesunder, je besser er in der Lage ist, nach einem erlittenen Schock wieder zu seiner vollen Funktion zurückzukehren“, lautet die Gesundheitsdefinition von Moshé Feldenkrais. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich bei dem Schock um Krankheit, Unfall oder psychische Beeinträchtigung handelt.

Die Fähigkeit, sich von einer Grippe, einem gebrochenen Arm oder vom Verlust eines nahen Angehörigen nach einer angemessenen Zeit möglichst vollständig zu erholen und zum vorherigen Zustand zurückzukehren, wird als Gradmesser für Gesundheit angesehen.
Welch krasser Gegensatz zum herrschenden Gesundheitsverständnis unserer Gesellschaft, welches die Abwesenheit von Krankheit zum Gesundheitsideal erhebt. Die unterschiedlichen Konsequenzen möchte ich an einem Beispiel erläutern:

Ein älterer Mann, dessen Gelenkkopf der rechten Hüfte stark beschädigt ist, (Arthrose) kommt zu mir, weil er lernen möchte, leichter zu gehen. Sein hinkender Gang kostet ihn soviel Kraft, daß er nach wenigen Kilometern bereits stark ermüdet ist. Was er aber als noch störender empfindet, ist die Tatsache, daß er aufgrund der Anstrengung keine rechte Freude mehr bei seinen vorher so geliebten Spaziergängen in der Natur erlebt. Der behandelnde Orthopäde sagt ihm, daß das Problem ohne Hüftoperation nicht in den Griff zu bekommen sei. Der Mann lehnt eine Operation ab und beginnt, unterstützt durch Feldenkrais-Gruppen- und Einzelstunden, mit sich und seinem Gang zu experimentieren. Er findet heraus, wie er den Rest seines Körpers in bezug zum rechten Hüftgelenk zu setzen hat, verändert die innere Haltung zu seinem Gehen, bis er nach ca. zwei Jahren wieder in der Lage ist, mit Freude und Ausdauer zu wandern.

Sein Hüftgelenk ist in demselben Zustand wie vorher und er hinkt immer noch. Die Qualität des Ganges ist jedoch eine völlig andere geworden. War es vorher bei jedem Schritt sein Bestreben, mit Willens- und Muskelkraft seine „unfolgsame“ Hüfte zu besiegen, so hat er heute gelernt, den Rest seines Ganges so zu verändern, daß der rechten Hüfte nicht mehr Aktivität abverlangt wird, als diese zu leisten in der Lage ist. Die Folge ist ein schmerzfreier, in sich recht harmonischer Gang.
Betrachtet man ihn heute mit dem vorherrschenden Gesundheitsverständnis, so ist er als krank zu bezeichnen, da er eine Hüftarthrose hat und hinkt.

Die feldenkraisische Sicht bescheinigt ihm gute Gesundheit, da er wieder in der Lage ist, mit Freude das zu tun, was er tun möchte, nämlich zu wandern.

Der Ort der Veränderung
Von körperlichen Beschwerden Betroffene wünschen sich in aller Regel positive Veränderungen am Ort der Beschwerden. Jemand, der seine Beine als schwer empfindet, wünscht sich leichte Beine, jemand mit verspanntem Nacken wünscht sich ebendort Entspannung. So leicht verständlich und nachvollziehbar dieser Wunsch auch sein mag, so nutzlos ist, aus Sicht der Feldenkrais-Methode, häufig seine Erfüllung. Bei fast allen durch gewohnheitsmäßige Bewegungen bedingten Beschwerden muß die Veränderung, wenn sie von dauerhafter Natur sein soll, an anderen Orten im Körper geschehen als dort, wo sich die Beschwerden bemerkbar machen. Bevor ich diese Behauptung näher begründe, möchte ich Ihnen ein Beispiel aus anderen Lebenszusammenhängen geben:
Der Chef eines Waldarbeiterunternehmens beauftragt ein Team von sechs Holzfällern, eine riesige Waldfläche zu roden. Er addiert die mögliche Tagesleistung jedes Einzelnen und teilt als Ergebnis dem Team mit, daß er mit Erledigung der Arbeit innerhalb zweier Wochen rechne.
Drei der sechs Arbeiter sind ein wenig unmotiviert und liegen den größten Teil der ersten Woche im Schatten und genießen das schöne Sommerwetter. Die anderen drei fühlen sich für das Gesamtergebnis des Teams zuständig und arbeiten mit letztem Einsatz, um die Vorgaben des Chefs zu erfüllen.
Am Ende der ersten Woche ist einer der drei Fleißigen krank, die beiden anderen sind sehr müde. Die drei faulen Arbeiter raten dem Kranken dringend, einen Arzt aufzusuchen, um ganz schnell wieder gesund zu werden.
Sollte es der Arzt tatsächlich schaffen, dem Kranken zu schneller Genesung zu verhelfen, so ist dessen nächste Erkrankung absehbar, falls in der Zwischenzeit nicht entweder die Faulen fleißig geworden sind oder der Genesene aufhört, für die Faulen mitzuarbeiten und nur noch den ihm gemäßen Teil übernimmt.
Zurück zu körperlichen Beschwerden: bei jedem Schritt, den Sie gehen, beugen und strecken sich Ihre Hüft-, Knie- und Fußgelenke in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Angenommen, Sie gewöhnen sich aus irgendeinem Grunde an, Ihr Fußgelenk etwas weniger zu beugen als dies vorher der Fall war (beispielsweise weil Sie Schuhe mit Plateau-Sohlen chic finden) und Sie behielten diese Angewohnheit bei, so würde nach einigen Monaten möglicherweise Ihr Knie schmerzen. Das schmerzende Knie entspricht dem kranken Holzfäller. Es hat Belastungen mitübernommen, die eigentlich das Fußgelenk hätte übernehmen sollen.
Wenn Sie nun Ihr Knie erfolgreich behandeln lassen, werden die Beschwerden vermutlich nach einiger Zeit wiederkehren, falls das Fußgelenk in der Zwischenzeit sein Verhalten nicht verändert hat.
Die Feldenkrais-Methode kümmert sich mehr um die „faulen“ als um die überbelasteten Körperregionen. Sie stellt Bedingungen her, unter denen „faule“ Teile von Ihnen lernen können, den ihnen zugedachten Teil an Belastung in bestimmten Bewegungen oder Haltungen zu übernehmen. Als Folge davon verschwinden Beschwerden häufig scheinbar wie von selbst. Es handelt sich mithin um eine Unterstützung beim Bewegungslernen, nicht um eine Behandlung von Symptomen. Hieraus ergibt sich, daß die Feldenkrais-Methode kein medizinisches, sondern ein (bewegungs-) pädagogisches Verfahren ist.

Lernen zu lernen
„Lernen, so wie ich es verstehe, besteht nicht darin, daß man die Willenskraft stärkt und übt, sondern im Aneignen der Fertigkeit, überflüssige Handlungen und Kraftanstrengung zu vermeiden.“
(Moshé Feldenkrais)

Die heutige äußerst schnellebige Zeit konfrontiert die meisten Menschen mit rasch aufeinanderfolgenden Veränderungen gesellschaftlicher, familiärer, arbeitsbedingter und persönlicher Art. Erziehung, Schule und Berufsausbildung haben meist das Ziel, uns als nützlichen Teil des Bestehenden zu formen, nicht aber, uns auf ständigen Wandel vorzubereiten. Die Summe des bisher Gelernten taugt für immer weniger Menschen dazu, befriedigende Lebensqualität zu entwickeln und zu empfinden. Vielmehr sind Gefühle der Überforderung, des ständigen Stresses, und der Angst vor der ungewissen Zukunft an der Tagesordnung. Hiermit einher gehen häufig verspannte Muskeln, Schulter-/Nacken- und Rückenschmerzen.
Wie für viele andere Bereiche, so sind in der menschlichen Natur auch für den Umgang mit fremden Situationen zwei entgegengesetzte Möglichkeiten angelegt: Neugierde und Angst. Neugierde tendiert dazu, sich auf das Neue zuzubewegen, es zu erforschen und auf Chancen abzuklopfen. Angst führt zu Rückzug und Vermeidung des Neuen. Beide Möglichkeiten haben ihre Berechtigung und sind in sich weder gut noch schlecht. Die entscheidende Frage ist, welche der Verhaltensweisen in einer gegebenen Situation nützlicher ist.
In meinen Feldenkrais Angeboten gestalte ich den äußeren Rahmen so, daß die TeilnehmerInnen eingeladen werden, neuen Situationen mit Neugierde zu begegnen. Niemand wird aufgefordert, Bewegungen „gut“, „schön“, oder „richtig“ auszuführen. Ich ermutige immer wieder dazu, die Bewegungen als Experimente zu verstehen, deren Ausgang offen ist. Ich rate, Pausen einzulegen wann immer sich jemand danach fühlt. Auch Einschlafen während der Stunde ist „erlaubt“. Die Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem Ergebnis der Bewegung („Schaffe ich eine große Bewegung?“), sondern auf dem „wie“ („Ist die Bewegung angenehm, kann ich den Kraftaufwand noch reduzieren?“). Die TeilnehmerInnen experimentieren, meist im Liegen mit geschlossenen Augen, ausschließlich mit der eigenen Bewegung. Vergleiche mit anderen im Sinne von „besser“ oder „schlechter“ finden nicht statt.
Die hier umrissenen Rahmenbedingungen ermöglichen es, sich neuen Bewegungen mit Neugierde zu nähern, anstatt nach Perfektion zu streben, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, um anschließend individuell entscheiden zu können, welche Variante die für den Moment geeignetste ist. Diese Herangehensweise an Neues ist aus Sicht der Feldenkrais-Methode die beste Voraussetzung für den Prozeß des Lernens. Die Aneignung dieser Haltung gegenüber allem Neuen und Unbekannten bedeutet „Lernen zu lernen“. Den allermeisten TeilnehmerInnen ist diese Haltung zunächst sehr fremd. Wenn etwas nicht gelingt, neigen sie eher dazu, es mit mehr Anstrengung zu versuchen, den Krafteinsatz zu erhöhen. Gelingt es trotzdem immer noch nicht, ist Frustration die logische Folge. Diese Herangehensweise ist untrennbar mit Angst verbunden. Angst vorm Versagen, Angst, nicht gut genug zu sein. Als ehemaliger Trainer im Leistungssport ist mir diese Art des Perfektionsstrebens wohl vertraut. Aus eigener Erfahrung weiß ich heute, daß die feldenkraisische Art des Lernens für mich sowohl angenehmer, als auch effektiver ist. Aus diesem Grunde werbe ich mit Geduld und Ausdauer bei den TeilnehmerInnen dafür, diese einmal auszuprobieren, um im Lichte der gemachten Erfahrung selber entscheiden zu können, welche Variante ihnen besser gefällt. Obwohl ich für mich persönlich den Ehrgeiz schon lange als Lernhindernis erkannt habe, schleicht er sich doch immer wieder mal in verschiedensten Verkleidungen in mein Leben ein. Wenn ich ihn dann nach einer Weile doch entdecke, setze ich ihn so liebevoll wie möglich vor die Türe. Dieser eher lästige Prozeß hat aber auch sein Gutes. Er befähigt mich, mit einem mitfühlenden Schmunzeln zuzuschauen, wie meinen TeilnehmerInnen ihr Ehrgeiz oft im Wege steht und mein lockendes Werben fürs Ausprobieren der feldenkraisischen Vorgehensweise fortzusetzen . . .
Die Freiheit beginnt mit der dritten Möglichkeit
„Steht mir in einer gegebenen Situation nur eine Möglichkeit zu handeln, zu
denken oder zu fühlen zur Verfügung, so bin ich in diesem Moment zwanghaft.
Habe ich zwei Möglichkeiten, so bedeutet Ablehnung der einen automatisch die Entscheidung für die zweite Variante. Erst ab der dritten Möglichkeit entsteht die Freiheit einer wirklichen Wahl.“
(frei nach Moshé Feldenkrais)
Sehr viele Menschen bewegen Kopf und Augen immer gemeinsam, d.h., daß sich die Augen beispielsweise immer nach rechts bewegen, wenn sich der Kopf nach rechts dreht. Diese automatische Kopplung bezeichnet Moshé Feldenkrais als zwanghaftes Verhalten.
Ist nun jemand im oben genannten Beispiel in der Lage, die Augen entweder mitsamt dem Kopf nach rechts zu bewegen oder sie weiterhin geradeaus schauen zu lassen, so entsteht eine Alternative. Eine dritte Möglichkeit ist, die Augen nach links schauen zu lassen, während sich der Kopf nach rechts dreht.
Vielleicht möchten Sie an dieser Stelle einwenden, daß es zur Bewältigung Ihres normalen Alltags völlig ausreicht, Kopf und Augen gemeinsam zu bewegen, was in gewisser Weise auch richtig ist. Viele TeilnehmerInnen von Gruppenstunden haben aber schon die verblüffende Erfahrung gemacht, daß sich der Kopf viel leichter und freier drehen läßt, nachdem sie andere Kombinationsmöglichkeiten von Kopf- und Augenbewegungen erprobt haben. Wenn das gewohnheitsmäßige Repertoire durch alternative Bewegungsmöglichkeiten erweitert wird, entwickelt häufig auch die gewohnte Variante eine neue Qualität.
Natürlich kann die Fähigkeit, Kopf und Augen unabhängig voneinander zu bewegen auch direkten praktischen Nutzen haben: Ist ein Fußballspieler während eines Spiels in Ballbesitz, so sollte er gleichzeitig Ball, Gegner, Mitspieler und den freien Raum im Auge haben. Muß er nun jedesmal Kopf und Augen gleichzeitig bewegen, um sich Informationen zu beschaffen, so dauert dies zum einen recht lange und ist zum anderen für den Gegner leichter durchschaubar als wenn Kopf und Augen unabhängig voneinander operieren können. Überträgt man das Konzept der Wahlfreiheit von der Bewegung auf andere Lebenszusammenhänge, so eröffnen sich meines Erachtens sehr interessante Perspektiven. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:
Ist ein Säugling hungrig, so schreit er. Er hat keine andere Möglichkeit, mit seinem Hungergefühl umzugehen. 20 Monate später hat er die Alternative zu schreien oder „ham-ham“ zu sagen (oder erst „ham-ham“ sagen und zu schreien, wenn dies nichts genützt hat). 20 Jahre später kann er an den Kühlschrank gehen, um sich etwas zu essen zu holen oder er kann auf die Uhr schauen und sich sagen, daß es in einer Stunde Mittagessen gebe und sich der Hunger noch solange gedulden müsse oder er kann sagen, daß derzeit Abnehmen angesagt sei und deshalb die Mahlzeit entfalle.
Für Moshé Feldenkrais besteht der Prozeß des Erwachsenwerdens darin, in immer mehr Bereichen Wahlfreiheiten zu entwickeln. Für ihn ist dieser Prozeß nicht mit irgendeinem Datum abgeschlossen, sondern er dauert das ganze Leben lang an.
Meine Feldenkrais-Angebote beschränken sich darauf, Sie in der Entwicklung von Wahlfreiheit auf dem Gebiet der Bewegung zu unterstützen. Häufig berichten aber TeilnehmerInnen darüber, daß sie nach einer Weile das Prinzip, Wahlfreiheit als erstrebenswertes Gut zu betrachten, auch auf andere Bereiche des Lebens erfolgreich übertragen. In meinem persönlichen Leben schätze ich diesen Vorgang als eines der wertvollsten Ergebnisse meiner Beschäftigung mit der Feldenkrais-Methode.

Absicht und Handlung in Übereinstimmung bringen
Probieren Sie doch bitte einmal, mit Ihrer Zungenspitze kleine Kreise auf Ihren Gaumen zu zeichnen und lesen erst danach weiter.
Falls dies nicht funktioniert hat, lassen Sie das folgende Experiment weg. War es Ihnen aber möglich, so probieren Sie doch bitte erneut, mit der Zungenspitze Kreise auf Ihren Gaumen zu zeichnen und gleichzeitig die Augen zu schließen und zu öffnen.
Ich bin mir fast sicher, daß Ihre Zungenbewegung durch die zusätzliche Augenbewegung erst einmal gestört wurde. Mit einiger Übung stellt die Aufgabe hingegen kein Problem mehr dar. Wissen Sie zufällig noch, was Ihre Atmung getan hat, während sich die Zungenbewegung gestört fühlte? Haben Sie Ihren Nacken, Ihre Bauchmuskeln angespannt? Haben Sie vielleicht Ihr Gesicht verzogen? Vermutlich wissen Sie es nicht mehr. In aller Regel ist es aber so, daß um so mehr überflüssige Begleitbewegungen stattfinden, je schwerer die eigentlich gewollte Bewegung fällt.
In der Phase des Neuerlernens einer Bewegung ist es also völlig normal, überflüssige Begleitbewegungen unbeabsichtigt mitauszuführen. Durch weitere Lernprozesse verschwindet nach und nach immer mehr Überflüssiges, bis zu guter Letzt nur noch die beabsichtigte Bewegung übrigbleibt und somit Ihre Absicht und Ihre Handlung übereinstimmen. Eine Bewegung, die sich allem Überflüssigen entledigt hat, fühlt sich leicht und angenehm an. Wie kommt es aber, daß vermutlich die meisten LeserInnen bei bestimmten Bewegungen oder Haltungen andere Empfindungen als Wohlbefinden und Leichtigkeit spüren? Dafür lassen sich drei Hauptgründe anführen:
Erstens, Sie haben den Lernprozeß abgebrochen, bevor Ihnen die Bewegung wirklich leichtgefallen ist, d. h., Sie haben sich mit dem erreichten Niveau zufrieden gegeben. Als Beispiel hierfür möchte ich meine Fähigkeit, Hemden zu bügeln anführen. Ich mag diese Tätigkeit nicht sonderlich und vermeide sie, wann immer es möglich ist. Zur Not kann ich mit akzeptablen Ergebnissen bügeln, brauche aber recht lange. Auch ermüdet mich die Tätigkeit recht schnell, da ich offensichtlich eine Menge überflüssiger Anspannungen ausführe. Der Zustand ist mir bewußt und ich kann damit gut leben. Bügeln ist mir nicht wichtig genug, um es darin zur Meisterschaft zu bringen. Soweit so gut. Sollte ich mich aber eines Tages gezwungen sehen, meinen Lebensunterhalt mit täglich stundenlangem Bügeln zu bestreiten und ich behielte meine lausige Bügeltechnik bei, so würde ich spätestens nach vier Wochen vor lauter Schulter- und Nackenschmerzen kein Bügeleisen mehr halten können. Sie meinen, dieses Beispiel sei unrealistisch, da ich meine Technik schon verbessern würde, wenn ich es müßte? Schön wär’s. Die Zahl der Menschen, die täglich stundenlang in Büros sitzen, ohne leichtes Sitzen gelernt zu haben, die Zahl der Menschen, die täglich Lasten heben und tragen, ohne dies in guter Qualität gelernt zu haben, ist riesig groß. Als Beleg hierfür mag die Tatsache dienen, daß über 40% der Krankentage in Deutschland mit Rückenschmerzen begründet werden.
Der zweite Hauptgrund für überflüssige Anspannungen bei bestimmten Bewegungen sind widerstreitende Motive im Handelnden.
Angenommen ich fahre mit meinem Auto durch eine Autobahnbaustelle, mit Tempo 80 Geschwindigkeitsbegrenzung und lediglich zwei Meter breiter Überholspur. Vor mir fährt ein LKW mit Tempo 70. Nun möchte ich einerseits gerne schneller als Tempo 70 fahren, wofür ich den LKW überholen müßte, andererseits möchte ich mich nicht auf so engem Raum am LKW vorbeiquetschen, was aber bedeutet, daß ich weiterhin Tempo 70 fahren muß. Egal, ob ich mich nun für oder gegen Überholen entscheide, ist meine Fahrweise in diesem Moment von überflüssiger Anspannung geprägt: Überhole ich, so krampfen sich die Hände um das Lenkrad und der Nacken spannt sich an, überhole ich nicht, so beißen die Zähne aufeinander und ich rutsche auf meinem Sitz hin und her.
Den dritten Hauptgrund liefert emotionale Aufladung einer Bewegung.
Solange sich die Emotion konkret auf die jetzige Situation bezieht, führt sie zwar auch zu zusätzlicher Anspannung, was aber nicht weiter schlimm ist, da die Anspannung nach Abklingen der Emotion die Bewegung nicht mehr begleitet.
Wenn Sie während des Lesens eines Briefes, der schlechte Nachrichten beinhaltet, mehr und mehr in Ihrem Stuhl zusammensinken, so spannt sich dabei zwar Ihre Rückenmuskulatur an, doch bleibt dies ohne schädliche Konsequenzen, solange Sie am nächsten oder übernächsten Tag wieder zu Ihrer normalen Art zu sitzen zurückkehren. Ganz anders sieht es aus, wenn die ursprünglich emotional eingefärbte Art des Sitzens zur Dauergewohnheit wird und somit auch dann noch anhält, wenn die Emotion längst vergessen ist. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben:
Eine 79-jährige Teilnehmerin eines meiner Wochenendseminare steht nach einer Bewegungssequenz mit einer im Vergleich zu vorher wesentlich aufrechteren Haltung auf. Zunächst bemerkt sie die Veränderung mit Freude und Erstaunen. Kurze Zeit später steht sie sehr nachdenklich und traurig am Fenster. Sie erzählt mir auf Nachfrage, daß sie sich gerade als Siebenjährige im Ballettunterricht gesehen habe. Die sehr strenge Lehrerin sei immer mit einem Stock in der Hand durch den Raum gegangen und habe Kinder, die sich nicht gerade genug hielten, sehr schmerzhaft auf die Waden geschlagen. Während sie sich nun eben mühelos aufrecht gefühlt habe, habe sie sich plötzlich sowohl an die Ballettstunden erinnert, was seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesen sei, aber vor allem sei ihr schmerzhaft klar geworden, daß sie sich seit dieser Zeit beim Stehen andauernd mit Angst und Anspannung aufrecht gehalten habe. Feldenkrais-Stunden sind so aufgebaut, daß Sie es lernen können, Bewegungen nur mit dem tatsächlich erforderlichen Aufwand auszuführen. Dies bedeutet, daß Sie nur genau das tun, was Sie in diesem Moment zu tun beabsichtigen und nicht noch – unbewußt – zusätzlich diverse andere Dinge tun. Kurz, Sie können lernen, Ihre Absicht und Ihre Handlung in Übereinstimmung zu bringen.

Leitideen der Feldenkrais-Methode