Was ist ein Trauma?
Stellen Sie sich vor, dass Sie zum ersten Mal in London sind.
Szenario 1:
Am Bahnhof steigen Sie in ein Taxi. Sie lassen die fremde Stadt auf sich wirken, während das Taxi losfährt. Plötzlich schlägt Ihnen das Herz bis zum Halse, Sie bekommen einen Schweißausbruch, alle Muskeln spannen sich an und Sie starren auf die Straße vor Ihnen. Im nächsten Moment weicht die Spannung einem Lächeln: willkommen im Linksverkehr! Der Herzschlag beruhigt sich allmählich, die Knie sind noch eine Weile etwas weich oder zittrig und Sie sinken entspannt in den Sitz zurück. Sie beschließen, dem Taxifahrer zu vertrauen und wenden sich wieder der Umgebung zu. Es entstehen keinerlei Folgeprobleme und zu Hause können Sie das Ganze Ihren Freunden als nette Anekdote erzählen.
Was ist passiert? Während der bewusste Teil Ihrer Wahrnehmung mit der fremden Stadt beschäftigt war, hat ein anderer Teil von Ihnen registriert, dass Sie auf der „falschen“ Seite fahren, was in einer deutschen Stadt lebensgefährlich wäre. In Sekundenbruchteilen schaltet Ihr Gehirn auf „Alarm-Modus“. Dieser ist im Laufe einer langen Evolution entstanden und bewusst nicht steuerbar. Er bereitet Sie darauf vor, sich der drohenden Gefahr zu stellen und die Situation erfolgreich zu bewältigen. Im nächsten Moment wird Ihnen klar, dass es sich um einen Fehlalarm handelt und alle Bestandteile des „Alarm-Modus“ beruhigen sich allmählich.
Szenario 2:
Sie nehmen sich einen Leihwagen, haben großen Respekt vor den Herausforderungen des Linksverkehrs und fahren mit voller Konzentration und einiger Anspannung los. Erst geht alles gut, aber dann biegen Sie in einen Kreisverkehr falsch ein. Ein Fahrzeug kommt Ihnen entgegen. Zum Ausweichen ist es zu spät. Die zwei Sekunden bis zum jetzt unvermeidlichen Aufprall reichen, um den Alarm einzuschalten und zu erkennen, dass Sie einen Fehler begangen haben, der jetzt zum Unfall führt. Zum Glück gibt es neben Blechschäden bei allen Beteiligten nur leichte Schleudertraumata zu beklagen.
Nachdem alle Formalitäten geregelt sind und Sie in Ihrem Hotel endlich zur Ruhe kommen, klingen die Stresssymptome langsam ab. Dank verschriebener Schmerz- und Entspannungsmittel verschwinden in den nächsten Tagen auch die Nackenverspannungen und die Kopfschmerzen. Zufrieden beenden Sie nach zwei Woche Ihren Urlaub.
Etwa drei Wochen später verschlechtert sich zunehmend Ihre Schlafqualität, Sie bekommen ungewohnt häufig Kopfschmerzen und sind beim Autofahren deutlich angespannter als sonst. Sie fühlen sich nicht im gewohnten Maße belastbar und ermüden schnell. Sie leiden unter einem Trauma oder, wie es in der Fachsprache heißt, unter einer „post-traumatischen Belastungsstörung“.
Ob sich nach einem Schock-Erlebnis ein Trauma entwickelt oder nicht, ist individuell sehr unterschiedlich. Eine Naturkatastrophe oder ein Terrorangriff hinterlassen bei vielen Menschen tiefe Spuren, die ihr Leben radikal verändern, während andere ihr normales Leben nach recht kurzer Zeit wieder aufnehmen können und an dem Erlebten vielleicht sogar gewachsen sind. Darüber hinaus kann es sein, das ein und derselbe Mensch auf gleiche Begebenheiten je nach Lebensphase unterschiedlich reagiert. So kann es sein, das sich ein 20-jähriger Formel-1 Rennfahrer nach einem Unfall bei Tempo 280 auf einem großen Abenteuerspielplatz wähnt und frohen Mutes aus dem zerstörten Wagen steigt, um mit dem nächsten weiter zu rasen, während er zehn Jahre später, verheiratet und als Vater zweier Kinder, von einem sehr ähnlichen Unfall traumatisiert wird.
Faktoren, die unter anderen darüber entscheiden, ob jemand von einem Geschehen traumatisiert wird oder nicht, sollen im folgenden untersucht werden.
Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Traumas ist ein Geschehen, in welchem in zu kurzer Zeit zu viel passiert. Die Betroffenen sind mit der Heftigkeit des Ereignisses und der zu kurzen oder nicht vorhandenen Vorwarnzeit so überfordert, dass sie das Erlebte nicht verarbeiten können. Es bleibt den Betroffenen zu wenig Zeit, um die Gefahr zu erkennen, sie zu analysieren, eine Entscheidung über angemessenes Verhalten zu treffen und schließlich eine erfolgreiche Handlung zu unternehmen. Erfolgreich in dem Sinne, dass die Gefahr abgewendet oder doch zumindest minimiert wird. Greift Sie beispielsweise ein Straßenräuber in einer belebten Großstadt von hinten an, um Ihre Tasche zu erbeuten, so werden Sie vermutlich zu wenig Zeit für eine erfolgreiche Handlung zur Verfügung haben, zumal sie wahrscheinlich mehr mit Ihrem Erschrecken als mit dem Räuber beschäftigt sind. Falls Sie aber zufällig über ein fundiertes Training in einer Kampfsportart verfügen, haben Sie möglicherweise genügend Zeit, um in aller Ruhe Ihre Fähigkeiten zur Abwehr des Angriffs einzusetzen.
Wie weiter oben bereits beschrieben, löst die Wahrnehmung einer Bedrohung in Sekundenbruchteilen im Körper Alarm aus. Blitzschnell laufen eine ganze Reihe biologischer Vorgänge ab, mit dem Ziel, möglichst viel Energie zu mobilisieren. Wird die Energie nun bestimmungsgemäß eingesetzt, nämlich zum Kampf oder zur Flucht, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass keine Traumatisierung entsteht, besonders dann, wenn der Kampf oder die Flucht erfolgreich waren. Aber selbst bei ausbleibendem Erfolg hat die Aktion Energie verbraucht, was eine Traumatisierung verhindern oder zumindest abmildern kann. In psychologischen Lehrbüchern wird häufig die Geschichte einer amerikanischen Schulklasse beschrieben, die sich während einer Klassenfahrt in einem Haus befand, das einstürzte. Wundersamerweise wurde niemand verletzt, aber sie blieben über 60 Stunden eingeschlossen. Zwei der Schüler begannen, mit den Händen Schutt wegzuräumen. Die anderen erkannten diese Arbeit als völlig aussichtslos und beteiligten sich nicht daran, um ihre Kräfte zu schonen. Untersuchungen einige Monate nach der Rettung ergaben, dass die beiden, die „sinnlos“ gearbeitet hatten, die einzigen nicht-traumatisierten Schüler waren.
Energie, die im Alarm-Zustand zum Kämpfen oder Fliehen bereit gestellt wird, kann nicht immer ihrem Zweck entsprechend verwendet werden. Wie oben beschrieben kann es sein, dass Sie zu wenig Zeit zum Handeln haben. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass zwar etwas Zeit zur Verfügung steht, aber weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen. Wenn Sie beispielsweise von einer Leiter stürzen, bleibt zwischen dem Verlust des Gleichgewichts und dem Aufprall am Boden genügend Zeit, den Alarm einzuschalten, aber für Kampf oder Flucht gibt es kaum Chancen. Für solche Fälle gibt es eine dritte Möglichkeit: die Erstarrung. Hierbei frieren körperliche Bewegungen buchstäblich ein und die Wahrnehmung wird auf allen Ebenen reduziert. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen ihre Emotionen und ihre körperlichen Schmerzen nur eingeschränkt wahrnehmen. Es handelt sich um einen gnädigen Mechanismus, der uns befähigt, Unaushaltbares auszuhalten. Wird nun die blitzschnell aufgebaute Energie nach dem Sturz nicht abgebaut, so bleibt der Mensch im Alarm-Zustand, auch wenn die Gefahr bereits vorüber ist. Selbst wenn die sichtbaren Verletzungen längst ausgeheilt sind, kann der Alarm noch Monate und Jahre eingeschaltet bleiben. Trauma-Symptome entwickeln sich oft erst lange nach dem Ereignis, was oft dazu führt, dass die Betroffenen, aber auch Ärzte, die Symptome nicht der Ursache zuordnen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Traumata durch eine Kette von Ereignissen bedingt sind:
Am Anfang steht ein überwältigendes Erlebnis, bei dem zu schnell zu vieles passiert.
Der Körper stellt eine große Menge Energie zur Verfügung und das Nervensystem ist hochgradig erregt.
Wird die Energie nicht auf angemessene Weise abgebaut, bleibt der Mensch im Alarm-Zustand stecken. Über kurz oder lang führt der permanent eingeschaltete Alarm zu Symptomen, die verschiedenste Formen annehmen können.
Ein Trauma ist entstanden.
Wie die Traumatherapie nach Peter Levine den Betroffenen hilft, aus dem Trauma wieder herauszukommen ist im Kapitel „Wie arbeitet Traumatherapie?“ beschrieben.